Plessower See

Werder (Havel), den 24.4.2024

Christian Morgenstern


Der Werwolf

Ein Werwolf eines Nachts entwich
von Weib und Kind und sich begab
an eines Dorfschullehrers Grab
und bat ihn: "Bitte, beuge mich!"

Der Dorfschulmeister stieg hinauf
auf seines Blechschilds Messingknauf
und sprach zum Wolf, der seine Pfoten
geduldig kreuzte vor dem Toten:

"Der Werwolf," sprach der gute Mann,
"des Weswolfs, Genitiv sodann,
dem Wemwolf, Dativ, wie mans nennt,
den Wenwolf, - damit hats ein End."

Dem Werwolf schmeichelten die Fälle,
er rollte seine Augenbälle.
"Indessen," bat er, "füge doch
zur Einzahl auch die Mehrzahl noch!"
Der Dorfschulmeister aber mußte
gestehn, daß er von ihr nichts wußte.
Zwar Wölfe gäbs in großer Schar,
doch 'Wer' gäbs nur im Singular.

Der Wolf erhob sich tränenblind
er hatte ja doch Weib und Kind!!
Doch da er kein Gelehrter eben,
so schied er dankend und ergeben.

500 m Luftlinie vom Plessower See, auf dem Galgenberg, entstanden Morgensterns Galgenlieder. Diese "Galgenstimung" macht sich noch heute am Plessower See bemerkbar.

Christian Morgenstern beschrieb diese Stimmung so:

Dem Kinde im Manne. "Im ächten Manne ist ein Kind versteckt: das will spielen."
Nietzsche

Versuch einer Einleitung.

Wir leben in einer bewegten Zeit, Ein Tag folgt dem andern, und neues Leben sproßt aus den Ruinen. Auf moralischem, medizinischem, poetischem, patriotischem Gebiete, in Handel, Wandel, Kunst und Wissensehaft, allüberall dieselbe Erseheinung, dieselbe Tendenz. Symptom reiht sich an Symptom. Und solch ein Symptom war auch die Idee, welehe eines schönen Tages des hinverflossenen Jahrhundertendes acht junge Männer, festentschlossen, dem feindlichen Moment, wo Immer, im Sinne der Zeit und auch wieder nicht Im Sinne der Zeit-diese Zeit, wie Jede, als eine Zeit nicht nur der Bewegung schlechthin, sondern einer sowohl ab-wie aufsteigenden Bewegung, mit zeitweilig dem Ideale unentwegten Fortschritts nur zu abgekehrter Vorwiegung des ersteren Moments in Ihr gesehen-die Singspielhalle, sozusagen, ihres Humors entgegenzustellen, zusammenschmiedete. Ein sonderbarer Kult vereinte sie. Zuvörderst wird das Licht verdreht, ein schwarzes Tuch dann aus dem Korb und übern Tisch gezogen, mit Schauderzeichen reich phosphoresziert, und bleich ein einzig Wachs inmitten der Idee des Galgenbergs entnommner freudig-schrecklicher Symbole. Dazu heißt der Erste Schuhu: der hängt zuhöchst und gibt den Klang zum Hauch des Rabenaas, der das Mysterium verwest; der Dritte heißt Verreckerle: der reicht das Henkersmahl; der Vierte Veitstanz, zubenannt der Glöckner: der zieht den Armesünderstrang; der Fünfte Gurgeljochem: der schert den Lebensfaden durch; der Sechste Spinna, das Gespenst der schlägt zwölf; der Siebente Stummer Hannes, zubenannt der Büchner; der singt Fisches Nachtgesang, und der Achte Faherügghh, mit dem Beinamen der Unselm der kann das Simmaleins und spricht das große Lalula. Und es wird das Knochenklavier geschaffen und der Gelau;chtertrab und die Elementarsymphonie und der Huckepackdalbert und der Eulenviertanz und der Galgensehlenkerer und Sophie die Henkersmaid als Symbild von der Weisheit unverweslichem Begriff.



Christian Morgenstern (1871-1914) lebte seit 1894 mit Unterbrechungen in Berlin. Die erste Ausgabe der "Galgenlieder", denen das "Werwolf"-Gedicht entnommen ist, erschien 1905 in Birkenwerder bei Berlin. 1915 lagen sie bereits in 15. Auflage vor. Die Galgenlieder von Morgenstern gehen wahrscheinlich auf den Galgenberg bei Werder zurück, wohin der Dichter häufig Ausflüge mit seinen Freunden, u.a. mit dem Dramatiker Georg Hirschfeld und dem Schauspieler Friedrich Kayßler, unternahm. ...

Quelle: www.literaturport.de